Die Neuverbindlichkeiten im Insolvenzeröffnungsverfahren: Eine Falle bei Betriebsfortführung!?

Seit Jahrzehnten ist es ein Dauerproblem im Insolvenzrecht: Was passiert mit den neuen Verbindlichkeiten, die während eines laufenden Eröffnungsverfahrens bei einer Betriebsfortführung entstehen, weil ohne sie ein weiterer Betrieb des Unternehmens schlicht nicht möglich wäre? Besonders relevant ist diese Frage im Eigenverwaltungsverfahren, das zunehmend zur Regel wird und fast immer auf den dauerhaften Erhalt des Unternehmens und guter Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten und Dienstleistern auch nach dem Insolvenzverfahren abzielt.

Die Ausgangslage: Das Dilemma der neuen Verbindlichkeiten

Im Eröffnungsverfahren stößt man bei diesen – vermeintlichen – betriebswirtschaftlichen Selbstverständlichkeiten auf das Dilemma, dass ein Insolvenzschuldner zwar neue Verbindlichkeiten für Wareneinkauf, Dienstleistungen oder auch Mietverhältnisse eingehen kann, diese aber vor der offiziellen Insolvenzeröffnung nur als Insolvenzverbindlichkeiten begründet werden können. Die jeweiligen Neugläubiger würden sich also ohne Gegenmaßnahmen geradewegs in der undankbaren Position eines Quotengläubigers wiederfinden. Im Falle eines nicht veröffentlichten Schutzschirmverfahrens möglicherweise sogar, ohne dies erkennen zu können

Im Eigenverwaltungsverfahren behält der Schuldner die Verfügungsgewalt über sein Vermögen und führt seinen Betrieb fort. Er muss also auch eigenverantwortlich die Eingehung neuer Verbindlichkeiten vertreten. Das Problem: Eigentlich dürfte der Schuldner solche Verbindlichkeiten nicht bezahlen, ohne sich regresspflichtig zu machen. Faktisch ist er jedoch gezwungen, sie zu begleichen, um den Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten bzw. nicht als Betrüger dazustehen. Dies hat in der Vergangenheit immer wieder zu Unsicherheiten und Streitigkeiten geführt.

Bisherige Lösungsansätze: Ein Flickenteppich

Um dieses Dilemma zu lösen, wurden in der Vergangenheit verschiedene Wege entwickelt, eine einheitliche Lösung wurde jedoch nie gefunden. Ein Ansatz in der Fremdverwaltung ist die sogenannte „starke“ vorläufige Insolvenzverwaltung. Ordnet das Gericht diese auf Anregung des Gutachters bzw. vorläufigen Insolvenzverwalters an, erhält dieser bereits während des Eröffnungsverfahrens die Verfügungsgewalt über das Vermögen des Schuldners und ist berechtigt und verpflichtet, neue Verbindlichkeiten als privilegierte Masseverbindlichkeiten zu behandeln, das heißt sie jederzeit, insbesondere auch nach der eigentlichen Verfahrenseröffnung, zu begleichen. Dies geht sehr weit und kann Masseausgaben verursachen, die für die Betriebsfortführung eigentlich gar nicht nötig wären. Daher wurde und wird dieser „sauberste“ aller Wege in der Regel verschmäht. Viel häufiger kommt es in der Praxis vor, neue Verbindlichkeiten zwar als Insolvenzverbindlichkeiten zu begründen, deren Begleichung aber als „betriebsnotwendige Ausgaben“ zu klassifizieren. Diese gelten als massedienlich und lösen daher keine Regressansprüche aus. Auch diese Rechtfertigung überdauert die erneute Zäsur der eigentlichen Verfahrenseröffnung nicht. Was zu diesem Zeitpunkt noch an offenen neuen Insolvenzverbindlichkeiten besteht, darf grundsätzlich nicht mehr aus der Masse bezahlt werden, sofern den Gläubiger nicht noch Rückbehalts- oder Sicherungsrechte schützen.

Vor Übergang ins eröffnete Verfahren wird daher häufig ein Antrag auf Einzelermächtigung zur Begründung bestimmter Masseverbindlichkeiten gestellt. Dabei wird dem Gericht eine Liste vorgelegt, in der alle neuen Verbindlichkeiten aufgeführt sind, die nach Einschätzung der vorläufigen Insolvenz- oder Eigenverwaltung zum Eröffnungszeitpunkt noch bestehen. Richtig umgesetzt – nämlich ohne Auslassungen und vor Begründung der ersten dieser Verbindlichkeiten erteilt – ist diese Lösung rechtssicher. Der frühe Ansatzpunkt der Prognose macht sie aber in der Umsetzung kompliziert. Denn die zu erwartenden Verbindlichkeiten müssen im Voraus genau bezeichnet und beziffert werden – eine Herausforderung, die die im Eröffnungsverfahren ohnehin stark ausgelastete Buchhaltung gerade mittelständischer Unternehmen oft überfordert.

Flexibler ist die Einrichtung eines Treuhandkontos kurz vor der Eröffnung. Dieses Konto wird mit genügend Geld ausgestattet, um alle zum Eröffnungszeitpunkt noch offenen Neuverbindlichkeiten sicher zu begleichen. Hier muss nur der Gesamtbetrag stimmen und die Kalkulation kann noch bis wenige Tage vor Verfahrenseröffnung korrigiert werden. Allerdings ist diese Praxis weiterhin umstritten und wird von etlichen Gerichten als rechtswidrig angesehen.
Für die Eigenverwaltung hatten bis 2020 nur die beiden letztgenannten Varianten – Einzelermächtigung und Treuhandkontenlösung – ansatzweise eine rechtliche Grundlage: Die liquiditätsintensive, aber rechtlich voll abgesicherte Position des „starken“ vorläufigen Verwalters setzte logisch einen Übergang der Verfügungsgewalt und damit eine Fremdverwaltung voraus. Sie war daher auf die Eigenverwaltung nicht „entsprechend“ anwendbar.

Gesetzliche Neuerung 2021: § 270c Abs. 4 S. 1 InsO

Mit der Einführung des § 270c Abs. 4 S. 1 InsO zum 1. Januar 2021 hat der Gesetzgeber zumindest diese Lücke geschlossen. Das Gesetz sieht nunmehr vor, dass das Insolvenzgericht auf Antrag des Schuldners anordnet, dass dieser keine Insolvenzverbindlichkeiten, sondern Masseverbindlichkeiten begründet. Dies entspricht der „starken“ vorläufigen Insolvenzverwaltung und stellt insoweit die Eigenverwaltung der Fremdverwaltung gleich. In der Praxis wird dieser Weg jedoch auch in der Eigenverwaltung häufig vermieden, da er nach wie vor sehr weitreichend und kostenintensiv ist.

Aber auch dieser Versuch der Vereinheitlichung ändert nichts an der sehr unterschiedlichen Handhabung: Als völlig neue Variante hat vor kurzem ein nordrhein-westfälisches Gericht die Ansicht ins Spiel gebracht, dass Neuverbindlichkeiten auch vor Verfahrenseröffnung nur nach vorheriger Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten beglichen werden dürfen. Dabei war es bereit, diese nach relativ groben Kriterien zu erteilen, was andere Gerichte wiederum für nicht rechtmäßig hielten. Auch die gar nicht beantragte Anordnung nach dem neuen § 270c Abs. 4 S. 1 InsO ist bereits vorgekommen.

Fazit: Weiterhin Unsicherheiten und neue Herausforderungen

Die Insolvenzpraxis zur Frage der Neuverbindlichkeiten ist auch nach der gesetzlichen Neuregelung von 2021 von Unsicherheiten und unterschiedlichen Rechtsauffassungen geprägt. Die Diskussion über die richtige Handhabung von Neuverbindlichkeiten in der Fremd- und Eigenverwaltung ist noch lange nicht abgeschlossen.

Für Unternehmen, die einen Insolvenzantrag in Eigenverwaltung erwägen, und ihre Berater bedeutet dies, dass sie sich weiterhin frühzeitig und intensiv mit den rechtlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzen müssen, um für ihre spezifische Situation die bestmögliche Lösung zu finden. Die Art und Weise der Absicherung von Neuverbindlichkeiten sollte möglichst schon vor Antragstellung mit allen maßgeblichen Beteiligten, also insbesondere auch dem Insolvenzgericht, abgestimmt werden, um spätere „Havarien“ zu vermeiden.

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Rechtsanwalt Kilian Haus

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